Story 8 – Wenn Schatten Geschichten erzählen

Atelierbesuch bei zwei Schattentheater- Künstlern

In Südostasien hat das Schattentheater eine jahrhundertealte Tradition. Hierzulande wurde es zur Zeit der Romantik groß. In Neukölln praktizieren Claudia und Naheul, zwei Künstler aus Südamerika, diese Kunst. Ein Besuch im Atelier. 

Beim Eintreten ins Atelier weht mir eine südamerikanische Brise entgegen. „Willst du einen Mate?“, fragt mich der argentinische Künstler Nahuel Bon. Auf dem Tisch sehe ich schon das traditionelle Trinkgefäß für den Tee – eine sogenannte Kalebasse, gefertigt aus einem kleinen getrockneten Kürbis. Daneben liegen Farben, Schablonen, Notizzettel, Kunstgeschichte-Bücher, Klebstoff und viele weitere Arbeitsmaterialien zum Basteln. Hier produziert Nahuel gemeinsam mit der aus Uruguay stammenden Künstlerin Claudia die Schattentheater-Werke. 

Geboren in Buenos Aires zog es ihn vor acht Jahren nach Berlin. Claudia wohnt seit 26 Jahren hier. Sie ist Juwelierin, Malerin und Yoga-Lehrerin. Die Leidenschaft für das Schattentheater hat sie von Nahuel gelernt.  In ihrem Atelier in der Boddinstraße basteln die beiden die Figuren und bemalen sie anschließend. Außerdem erarbeiten sie die Stücke und üben, üben, üben. Denn Schattentheater ist vor allem viel Proben, wie Claudia erzählt, und jede Aufführung immer ein wenig anders.

Schattenspiele für eine*n Zuschauer*in 

Aktuell arbeiten sie an einem besonderen Stück für jeweils nur eine*n Zuschauer*in. Die „Bühne“ ist eine milchige Scheibe, an die die Figuren mit Licht projiziert werden. Davor steht eine Schlauch-Konstruktion, durch die die Zuschauer*in blickt. Im Hintergrund wird Musik gespielt.  Das Stück heißt „Die Brücke“, ist drei Minuten lang und dreht sich um Menschen, die über das Mittelmeer versuchen, nach Europa zu gelangen – über die vielen, die in Seenot geraten und nicht gerettet werden. 

Claudia und Nahuel wollen eine Genehmigung beantragen, um „Die Brücke“ mit ihrem kleinen Schattentheater gegenüber der Volksbühne auf der Straße aufzuführen. Zudem werden sie das Stück bei verschiedenen Festivals einreichen. Es gibt zum Beispiel ein extra Puppenspiel-Festival für kleines Format: das Festival Teatro Lambe Lambe in Chile. 

Zuletzt haben Nahuel und Claudia beim Kiez-Fest auf dem Wartheplatz aufgeführt. Andere Spielorte waren unter anderem das Haus der Kulturen der Welt, das Neuköllner und das Dahlem-Museum, wo sie zusammen mit einer Künstlerin ein Stück über Minotaurus aufführten. Auch beim Karneval der Kulturen und in der indonesischen Botschaft haben sie schon öfter gespielt – immerhin kommt die Tradition des Schattentheater ja aus Indonesien. 

Dort vor Ort, auf der indonesischen Hauptinsel Java, lernte Nahuel auch das Handwerk. Zweimal ging er für insgesamt drei Jahre an die Uni dort und studierte Schattentheater. Zuvor musste er indonesisch und eine traditionelle Sprache des Theaters lernen. Außerdem erlernte er noch eine spezielle Musik: „Es waren viele, viele Stunden studieren“ lächelt Nahuel. 

Hinduistisch, muslimisch, christlich – spirituelle Wurzeln der Kunst 

Schon im Grundschulalter kam der Argentinier das erste mal mit Puppenspiel in Berührung – und die Faszination hörte seither nicht mehr auf. Er besuchte Workshops überall auf der Welt, angefangen in Buenos Aires, wo er die Technik des Marionetten-Puppenspiel à la Pinocchio lernte. In Hongkong lernte er das chinesisches Puppentheater. Und mit dem traditionellen Schattentheater fing Nahuel bei einer Kompanie in Frankreich an. 

Claudia und er trafen sich vor acht Jahren – und sie wurde von seiner Leidenschaft für das Schattentheater angesteckt. Seither arbeiten die beiden zusammen. Ihre Stücke spielen sie auf Deutsch und manchmal auch ohne Sprache – aber traditionell wird beim Schattentheater gesprochen.

Nahuel reicht mir ein paar Figuren, sie sind sehr filigran aus Leder gefertigt. Dafür verwendet er ein scharfes, spitzes und präzises Messer. Anschließend werden die Figuren kunstvoll in allen möglichen Farben handbemalt. Während ich Rama in den Händen halte (er stammt aus einem traumähnlichen Stück für Kleinkinder) erklärt mir Claudia, dass jede Figur eine andere bestimmte Bewegung macht und man sie so unterscheiden kann. Rama zum Beispiel kann seine Arme von der Schulter abwärts nach hinten bewegen. Andere Figuren bewegen die Beine oder die Hände. 

Die Stücke von Claudia und Nahuel sind überwiegend Adaptionen von traditionellen indischen Geschichten, die spirituelle Wurzeln aus ganz unterschiedlichen Richtungen haben – hinduistisch, muslimisch, christlich oder anderen Strömungen. Traditionell wird Schattentheater in Indonesien auch gern mal neun Stunden lang die ganze Nacht hindurch aufgeführt. Aber Nahuel und Claudia haben ihre Stücke zeitgenössisch aufgearbeitet und führen kürzere Versionen davon auf. Zum Beispiel „Ramayana“ und „Devaruchi“, die jeweils 35 Minuten lang und für jedes Alter geeignet sind.

Die kulturelle Welt in Neukölln 

Indonesien, Argentinien, Uruguay, Indien – so viele Kulturen in nur einem Atelier in Neukölln. Wie kam es dazu, dass sie hier gelandet sind? „Über eine Freundin aus Algerien, die ebenfalls Künstlerin ist, haben wir vor ein paar Jahren das Atelier in der Boddinstraße gefunden.“, erzählt Nahuel. Es gefällt den beiden gut in Neukölln, hier gibt es viele Ateliers und ein großes kulturelles Leben. Außerdem wohnen viele ihrer Freunde hier, alles internationale Künstler*innen: eine Malerin aus Russland, ein peruanischer Maskenbildner, Tänzer aus Peru, eine Keramik-Künstlerin und ein Maler aus Katalonien.

Am Ende meines Atelierbesuchs führen die beiden noch „Die Brücke“ auf: Über die Leinwand flackern Farben, Schatten von Händen, Wellen und Schiffen und im Hintergrund läuft dystopische Musik. Das Spiel mit Licht und Schatten entführt in eine Traumwelt. Die Figuren und Kulissen sind aufs Wesentliche reduziert und so entsteht die Geschichte mithilfe der eigenen Fantasie. Eine wunderbare Abwechslung in unserer knallbunten und bildüberfluteten Welt. 

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