Wie Sara Hauser mit ihrer Pandemie-Poesiebox für nachbarschaftlichen Austausch sorgt
Der Winter 2020/2021 war lang. Wie in jedem Winter legt sich Dunkelheit über die Stadt, Berlin ist kalt und grau, alle tragen schwarz. Der Unterschied zu sonst, man bekommt das gar nicht mehr mit, weil wir fast alle nur noch Zuhause sind. Corona bestimmt unseren Alltag, der während der langen Lockdown Monate fast ausschließlich auf unser Zuhause begrenzt ist. So war es auch bei Sara: Erst vor kurzem ist sie neu in eine WG in den Warthekiez gezogen, nach vielen Jahren des ständigen Umziehens, angekommen! Doch der Winter, Lockdown und Home Office beschränken ihre Welt auf das Haus, in dem sie lebt. Die Pandemie isoliert, der einzige Kontakt zu den Nachbarn sind die Geräusche, die sie hört. Der Nachbar über Sara scheint Möbelrücken als neues Hobby entdeckt zu haben, die Geräusche regen ihre Fantasie an und machen sie neugierig, mehr über die Menschen zu erfahren, mit denen sie in einem Haus lebt. „Wir Leben mit so vielen Menschen in einem Haus und wissen eigentlich gar nicht, wer das ist.“
Sara beginnt sich Gedanken zu machen. Sie möchte etwas gegen die Vereinzelung tun, etwas Gemeinschaftliches schaffen aus dem, was da ist und aus dem, was ihre Nachbar*innen bereit sind, zu geben. Sie erschafft den blauen Hausgeist.
„Gib mir ein Wort- ich geb dir ein Gedicht“ lautet seine Aufforderung im Frühjahr 2021. Im Hausflur steht eine kleine bunte Box und verlangt danach, mit Worten gefüttert zu werden. So beginnt der blaue Hausgeist Worte aus dem Haus zu sammeln und damit Gedichte zu schreiben.
Sara ist aufgeregt, ob die Idee angenommen wird und freut sich auf die erste Leerung. Besonders gefällt ihr das Wort Derwisch. Sie spielt damit und macht daraus dare:wish (Englisch: sich trauen & Wunsch), für sie hat das Gedicht aufgenommen was im Haus passiert.
dare:wish von euch & dem blauen hausgeist
eine*r, zwei
drehen langeweile
zwischen schwellen
kippen kaffeesahne (vegane)
in between dielen
wünsche wiegen
holterdipolternd
über den dielen
einen dutt legen
holz&dipolternd
close to the box
den rotstift stellen
zwischen sätzen
den zweiten (der erste ging stiften) stecken
in between dealen
wolkenbruchlanden zwischen
aschenden
schwellen wischen
putting a spell &
derweil
in between tierchen
jagdjackenflicken
geisterliebend & still
smells like
menschenurin
im fahrradschuppen
rollt langeweile
zwischen fingerkuppen
in between
tauben
ghostend
same same
seit viren
mutieren many men, many, many, many, many men
drehen eine*n,
zwei in die einsamkeit
13. bis 20.03.2021
Derwisch · Langeweile · Kaffeesahne · Holz · Dutt · Stift · Geisterliebe · Wolkenbruch · Einsamkeit · Langeweile
Jede Woche bekommt der blaue Hausgeist zehn bis zwölf neue Wörter. Am Ende der Woche ist Annahmeschluss, die Box wird eingesammelt und das Schreiben beginnt. Gedichte zum Mitnehmen sind für Montag angekündigt. Der Prozess gibt Sara Struktur. Aus dem 3. OG runter zu gehen um die Box zu leeren ist manchmal der Anlass, die Wohnung zu verlassen. Die optische Gestaltung der Gedichte und das Aufhängen der „Gedichte To Go“ ist eine Beschäftigung die ihr Spaß macht, es gefällt ihr auch etwas Haptisches zu schaffen. „Es hat niemand danach gefragt und das war auch das Schöne, einfach zu gucken was passiert“. Das Projekt trägt sie durch die Wochen, es ist aufregend zu schauen, ob neue Wörter da sind, die verschiedenen Papierfetzen zu sehen und zu überlegen, woher die Wörter kommen könnten.
Die Texte nehmen die Vibes aus dem Haus auf, von dem was passiert und wie es wahrgenommen wird. Die Gedichte und Wörter gehören zu dem Haus. Einmal steht auf einem Zettel 420. Sara lernt wofür die Zahl steht und der blaue Hausgeist macht daraus das Gedicht „420 Kuschelelefanten“. Die Gedichte werden mitgenommen, neue Wörter eingeworfen, die Idee kommt an.
Einmal war dann plötzlich alles weg, die Mini Galerie im Hausflur, die inzwischen entstanden war. Sara spricht mit der Reinigungskraft die jede Woche den Hausflur pflegt und erfährt, dass die Vertretung alles abgenommen hat. Zukünftig wird aber wieder alles hängen bleiben, auch die Reinigungskraft ist Teil der entstandenen Gemeinschaft.
An Fasching verkleiden Sara und ihre Mitbewohnerinnen sich und klingeln an jeder Tür, es wird gespielt: Wahrheit, Pflicht oder Gedicht. Die Idee: Sich kennenlernen. Bei Wahrheit werden Tarot Karten gelesen, bei Pflicht twerkt die Nachbar-WG im Türrahmen, die passende Musik dazu holen sie selbst noch schnell, bei Gedicht wird eins vorgelesen. Sara war erstaunt, wie viele geöffnet haben und es toll fanden, dass etwas passiert. Für sie war es ein schönes Gefühl, diese Bereitschaft zu erleben und herauszufinden, wer eigentlich so im Haus lebt.
Die Atmosphäre im Haus ist freundlich und Sara hat keine Hemmungen mehr, irgendwo zu klingeln. Nach einer schief gegangenen Blondierung, brauchten sie neulich einen elektrischen Rasierer, erzählt Sara, sie ist dann zu den Jungs im Hinterhof gegangen, deren Cousin hat ihr einen Rasierer geliehen, die Frisur konnte gerettet werden. Sie ist sich sicher, die Begegnungen davor haben dazu beigetragen, dass sowas einfach geht. Eine andere Nachbarin fragte neulich im Hausflur, wie das Wetter so ist, damit sie weiß, was sie ihren Kindern anziehen kann. Manchmal wird Sara gefragt, ob sie eigentlich der blaue Hausgeist ist.
Bisher hatte Sara in Berlin nie das Gefühl eine Nachbarschaft zu haben. Weil sie viel umgezogen ist, hatte sie keinen Anreiz, sich etwas aufzubauen. Das Gefühl hier länger bleiben zu wollen, hat etwas in ihr geöffnet: auf Nachbar*innen zu zugehen zu wollen. Ich fühle mich hier unglaublich wohl. „Die Nachbarn zu kennen, gibt ein Gefühl von Zuhause“. Sie ist sich nicht sicher, ob sie auch auf die Idee gekommen wäre, wenn sie nicht auch so viel Zeit Zuhause hätte verbringen müssen. Das hat sie dazu gezwungen, sich ihr Umfeld genauer anzuschauen.
Mit dem Frühling weiten sich die Grenzen des Raums, in dem wir uns bewegen. Der blaue Hausgeist macht erstmal Pause in seiner Box, das Leben findet wieder viel draußen statt. Vielleicht kommt er mit dem Winter zurück, vielleicht braucht es aber auch gar keinen blauen Hausgeist mehr, weil sich schon längst eine bunte Hausgemeinschaft gefunden hat.
Katrin Sonay