Story 7 – Der Bürgermeister vom Wartheplatz

Simon (36) wohnt seit 13 Jahren in Berlin – davon die letzten seit zehn Jahren in Neukölln. Er kam zum Informatik-Studium und blieb, um eine Familie zu gründen. Heute lebt der User-Experience-Designer mit seiner Frau und zwei Kindern (fünf und eins) in der Warthestraße. Und weil ihn hier jeder kennt und grüßt, nennen seine Freunde ihn auch gern mal den „Bürgermeister vom Wartheplatz“, wie Simon mit einem Augenzwinkern erzählt. Wir haben ihn getroffen und sprachen mit ihm über den Kiez und warum dieser für junge Familien so lebenswert ist.

Hi Simon, wie kam es dazu, dass ihr hier in den Kiez gezogen seid?

Dass wir die Wohnung gefunden haben, war Zufall und Glück. Schon bevor wir an Kinder gedacht haben, sagte mir ein Freund, dass bei ihm hier in der Warthestraße eine Vier-Zimmerwohnung frei wird. So eine große Wohnung haben wir zwar nicht gebaucht, aber wir haben nicht gezögert. Am ersten Wochenende nach dem Einzug wurde meine Frau dann schwanger.

Perfektes timing! Und warum wirst du der Bürgermeister vom Wartheplatz genannt?

Ich kenne jeden hier im Haus und sehr viele im Kiez. Da passiert es natürlich oft, dass mich jemand grüßt, es ist wie ein kleines Dorf hier. Im anonymen Großstadtleben Berlins ist das aber nicht so üblich, daher finden meine Freunde das immer bemerkenswert und haben mich daher so getauft.

Ich bin auch bei vielen Veranstaltungen im Kiez dabei und versuche ich meinem Rahmen, den Kiez zu verbessern. Zum Beispiel kenne ich die Kinder auf dem Spielplatz alle, und einige schmeißen ihren Müll einfach überall hin. Ich versuche ein Bewusstsein zu schaffen, dass es doch schöner wäre, wenn nicht überall Müll rumliegen würde. Einmal habe ich sie gefragt, ob sie nicht Lust haben, den Müll mit mir wegzuräumen und sie fragten mich: Was kriegen wir denn dafür? Kaufst du uns dann eine Tüte Chips?

Dann meinte ich: Na gut, wenn das euer Ansporn ist, dann machen wir das so. Innerhalb von zehn Minuten war dann der ganze Spielplatz sauber. Und danach haben wir dann zusammen Chips gegessen.

„Ich hoffe, dass wir in Neukölln eine ausgewogene Vielfalt an Leuten behalten“

Welche Veränderungen sind dir über die letzten Jahre hier aufgefallen?

Ich sehe viel weniger Robben & Wientjes, weil Umziehen einfach nicht mehr so möglich ist wie früher. Man findet keine Wohnung mehr und muss bleiben, wo man ist. Der Kiez hat sich gewandelt. Zum Beispiel gibt es immer mehr junge Eltern. Das finde ich spannend. Es war bei mir genauso: Zum Studium bin ich hergezogen, habe alles mitgemacht, von dem aufregenden Partyleben bis hin zu: Jetzt weiß ich, wo die besten Spielplätze sind.  Diejenigen, die jung hergezogen sind, laufen jetzt mit ihren Kinderwägen rum. Es ist ein bisschen wie vor 15 Jahren im Prenzlauer Berg, als die ehemaligen Studenten, Familien gegründet haben. Doch ich hoffe, dass wir in Neukölln eine ausgewogenere Vielfalt an Leuten behalten.

Hast du das Gefühl, es geht schon in die Richtung einer Homogenisierung der Menschen, die im Kiez leben – so wie es in Prenzlauer Berg geschehen ist? Oder glaubst du, die Gefahr besteht in Neukölln nicht?

Es gibt ein größeres Bewusstsein über diese Gefahr. Ich hoffe, man hat aus dem Beispiel Prenzlauer Berg gelernt. Die Politik versucht ja jetzt auch einzugreifen mit Mietpreisbremse, Mietendeckel und so weiter. Ich finde das sehr gut, denn es ist wertvoll von verschiedenen Menschen und Kulturen zu lernen. Und es ist wichtig, dass sich die Milieus weiterhin durchmischen.

Das hat das Kiezfest am Wartheplatz auch sehr gut gezeigt. Es ist besonders positiv zu sehen, dass ganz unterschiedliche Leute zusammen kommen. Erst haben die Alkis vom Wartheplatz eine Karaoke-Show gemacht, danach haben die Arab-Kids gerappt, dann hat die Cellistin Veronika auf ihren Instrumenten aus aller Welt gespielt. Das war schon sehr toll. Am End wurde arabische Musik gespielt und alle haben gemeinsam getanzt, egal welche Wurzeln man hat.

„Ich bleibe hier und versuche aktiv alles hier in meiner Nachbarschaft zum Besseren zu gestalten“

Würdest du noch mal wegziehen wollen?

Wir haben gerade das ganze Schulthema durch. Das ist ja bei vielen so der Moment zu überlegen, ob man wegzieht, damit das Kind auf eine der angesagten Schulen Berlins gehen kann. Dadurch, dass man in Berlin nicht mehr so leicht umziehen kann, gehen einige Eltern sogar wieder in ihre Heimat außerhalb Berlins. Und dann gibt es solche, die sagen: ich bleibe hier und versuche aktiv alles hier in meiner Nachbarschaft zum Besseren zu gestalten. Genau dafür haben wir uns auch entschieden. Wir wollen den Kiez nachhaltig so verbessern, dass sie auch unsere Kinder hier wohlfühlen können. 

Man hat hier viele Menschen, um sich herum, die viele unterschiedliche Dinge erlebt haben, das macht es so spannend. Jeder hat sein Leben und seine Entwicklung und es freut mich, immer auf neue Geschichten zu stoßen. 

Ich fühle mich hier wohl, auch wenn es natürlich auch unangenehme Menschen gibt, gibt es sehr viele tolle Leute. Ich versuche mich auf die zu fokussieren und den Rest auszublenden.

„Chill mal, du brauchst dich doch hier nicht so aufzuregen.“

Was müsste im Kiez verbessert werden?

Das sind so die typischen Dinge: Der ganze Hundekot auf den Straßen, der Müll der überall rumsteht, der gesamte Verkehr ist super schlecht geregelt in Neukölln – und zwar für alle Verkehrsteilnehmer. Gerade die Hermannstraße ist sehr gefährlich vor allem für Fahrradfahrer. So viel Stau, Unfallschwerpunkte, keine Fahrradwege – das muss alles besser
geregelt werden. 

Durch diese Unübersichtlichkeit entstehen auch viele Streits, zum Beispiel schnauzen einen ja gern mal einige alteingesessene Berliner an, wenn man auf dem Gehweg mit dem Fahrrad fährt. Das ist aber nicht anders möglich mit zwei kleinen Kindern und gesetzlich auch erlaubt. 

Neulich wurde ich mal wieder von einem alten Neuköllner angeschnauzt, als ich mit meinen Kindern auf dem Bürgersteig gefahren bin. Ein junger Mann mit Migrationshintergrund hat dann den Mann sehr locker und sympathisch zur Seite genommen und gesagt: Chill mal, du brauchst dich doch hier nicht so aufzuregen. Und das war eine schöne Erfahrung.

„Es war wie in einem Dorf, ich habe auch viel Mitgefühl erlebt. Abends kam dann sogar eine Nachbarin und hat mir eine selbstgemachte Tortilla vorbei gebracht“

Das klingt nach einer schönen Anekdote. Machst du solche Erfahrungen hier öfter mal mit deinen Nachbarn?

Ja, immer mal wieder. Zum Beispiel am Tag, an dem ich meinen Geburtstag feiern wollte. Mittags legte ich gerade meinen kleinen Sohn zum Mittagsschlaf hin, als ich einen lauten Knall draußen hörte. Ich habe aus dem Fenster geguckt und gesehen, dass ein Auto direkt in mein parkendes Auto gerast ist. Die drei jugendlichen Insassen sind ausgestiegen und weggerannt. Später kam raus, die haben das Auto geklaut. Ich konnte mich eigentlich nicht darum kümmern, weil ich ja meinen Sohn ins Bett bringen wollte. Aber natürlich musste ich raus, es war ja mein Auto. Am Ende musste ich den ganzen Tag auf der Straße verbringen, um auf die Kriminalpolizei, die Spurensicherung und so weiter zu warten. Später kam dann auch noch die Frau, der das geklaute Auto gehörte. Weil ich da sechs Stunden am Straßenrand stand, kamen nach und nach alle meine Nachbarn vorbei und fragten mich, was passiert sei. Es war wie in einem Dorf, ich habe viel Mitgefühl erlebt. Abends kam dann sogar eine Nachbarin und hat mir eine selbstgemachte Tortilla vorbei gebracht, weil es ihr so Leid tat, dass ich ja meinen Geburtstag feiern wollte. Das fand ich voll schön. 

„Hier kann man den Stress der Stadt entkommen und die Weite spüren“ 

Hast du einen Lieblingsort hier in Neukölln? 

Ja, mein Lieblingsort ist ganz klar das Tempelhofer Feld! Das Feld ist wie ein Meer für mich: Es hat ja auch sehr viele Analogien zum Meer. Zum Beispiel der Fahrradweg, der außen herrumführt, der erinnert mich oft an Dünen. Man hat manchmal das gleiche Gefühl, als wenn man am Meer vorbei fährt. Und wenn man abends auf dem Feld sitzt und die Lichter Berlins in der Ferne flackern sieht, dann ist es so, als ob man vom Strand aus auf eine andere Insel guckt. Und auch die Wiese mit den hohen Gräsern: Wenn der Wind da so drüber weht, dann sieht sie es wie Wellen. Das einzige was fehlt, ist der Strand. 

Und was ich dort besonders schön finde: Alle Leute, die da sind, machen Freizeitaktivitäten. Man geht dort nicht zum Arbeiten hin. Anders als im Rest der Stadt, wo überall Menschen mit ihren Laptops sitzen. Das Feld ist ganz klar ein Ort, um sich zu erholen und um Freizeit und Spaß zu haben.  Hier kann man den Stress der Stadt entkommen und die Weite spüren.

Das liebe ich einfach.

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